HERBERT GRÖNEMEYER
Berliner Lektionen (9.12.2001)
HEIMAT IM LAND DER MITTE

Guten Morgen!
Ich heiße Herbert. Ich wundere mich auch immer, wenn ich höre, daß jemand Herbert heißt. Und dann denke ich, wie kann
man so einen Namen haben? Und stelle dann nachher immer erst fest, ich heiße selber so. Also, ich kann das nachvoll-
ziehen. Und es stützt enorm, wenn jemand da ist, der das gleiche Schicksal teilt.
Ich habe so etwas wirklich noch nicht gemacht. Ich habe hier einen Stapel von Blättern. Ich glaube, ich werde mich ab und
zu verheddern, weil ich es selber nicht mehr lesen kann und meine Sätze wahnsinnig lang sind. Peter Zadek gab mir nach
der Generalprobe von "Frühlingserwachen" damals den aufmunternden Rat und die hilfreiche Kritik: "Wie du das morgen
Abend schaffen willst, weiß ich auch nicht. Du nuschelst. Du solltest vor der Vorstellung am besten mal einen einstündigen
Waldlauf machen, damit Deine natürlichen Töne nicht erst am Ende der Vorstellung kommen. Und drittens, solltest du auch
ab und zu mal ins Publikum kucken." Zum ersten hoffe ich, daß ich bis heute etwas verständlicher geworden bin - ich bin ja
auch etwas älter, etwas reifer - na, wie auch immer. Einen Waldlauf konnte ich nicht machen heute morgen, weil ich vor drei
Wochen erst an meinem Knie operiert worden bin. Hoch kucken kann ich jetzt noch, bald aber nicht mehr, weil ich sonst
den Faden verliere und mein Gehirn nicht mehr ganz so schnell nachkommt, was ich hier alles so aufgeschrieben habe. Aber
ich gebe mir Mühe. - Ich wollte das Ganze ja zuerst singen, aber mir ist kein Ton eingefallen, der 50 Minuten dauert.
Zuerst wollte ich erst mal etwas von zu Hause erzählen. Ich lebe seit dreieinhalb Jahren in London. Vor zwei Jahren bin ich
zum ersten Mal von meinen Nachbarn eingeladen und in die Nachbarschaft eingeführt worden. Das war ein älteres Ehepaar
aus Georgien. Ich saß auf einer Holzbank im Wohnzimmer, neben mir ein etwas älterer Herr. Er hatte einen bunten, grob-
gestrickten Pullover an und eine Brille auf. Er saß ein bißchen grantelig da und musterte mich von der Seite. Wir waren die
einzigen Gäste.
Und plötzlich fragte er mich: "Where're you from?" Ich sagte: "I'm from Germany." Da sagte er: "I hate the Germans." Darauf-
hin dachte ich, oh, das fängt ja schon mal richtig gut an. Das macht mich hier in der Nachbarschaft beliebt. Das kann ja ein
schöner Abend werden. Damit war die Konversation aber auch schon beendet. Und als wir uns dann in der Küche zu einem
wirklich wunderbaren Abendessen hingesetzt hatten und mehrere Flaschen Rotwein geleert hatten, legte sich langsam mei-
ne Nervosität und besonders als Martin - so hieß mein Banknachbar - mich plötzlich auf Deutsch fragte: "Woher kommst du
denn aus Deutschland?" Ich war ein wenig verdattert und sagte, ich hätte zuletzt vier Jahre in Berlin gewohnt. Darauf er:
"Berlin ist nicht Deutschland." Es stellte sich heraus, daß er '39 in Berlin geboren wurde und einjährig als Jude mit seinen
Eltern nach Australien emigrieren mußte. Er ist dann vor 35 Jahre mit ihnen nach London gekommen. Er schwärmte, je län-
ger der Abend dauerte, von Berlin und erzählte, daß seine Eltern Cartoonisten beim "Simplicissimus" gewesen waren. Dann
fing er auch noch in Deutsch an zu singen an. Er sang Kabarett-, Volks-Lieder und alte Soldatenlieder, die ich selber noch
nie gehört hatte. - Und ich habe wirklich eine umfangreiche Kenntnis von deutschem Liedern. Auf jeden Fall beschrieb er, wie
sehr sich seine Eltern hier in Deutschland wohlgefühlt hatten in den 20-er Jahren, und am Schluss endete er damit, daß er
sagte: "My parents have been Berliners up to here all their lives." (Handbewegung über dem Kopf) Und das hat mich, gerade
nach dem ganzen Vorspiel, sehr berührt.
Für mich selber war es so, daß ich das erste Mal nach Berlin gekommen bin - 1976, glaube ich. Also, meine Jahreszahlen
sind alle ein bißchen durcheinander, aber das ist ja auch nicht ganz so wichtig. Also, '76 war das, glaube ich. Ich habe hier
bei Peter Zadek in der "Geisel" an der Freien Volksbühne gespielt. Ich fand die Stadt damals extrem kompliziert, schwierig,
fühlte mich überhaupt nicht wohl, fand dies ganze Hippietum und dieses Eingeschlossensein unangenehm. Es war ein biß-
chen wie auf einer komischen Insel. Nach dem Theater ging ich dann oft mit meiner Gitarre noch in den Folk-Pup in der Leib-
nitzstrasse und spielte in einem Abendprogramm 15 Minuten Gitarre und Klavier. Dafür gab es ein Käsebrot und irgend et-
was zu trinken umsonst. Aber ich mußte den Druck loswerden, kam nie ins Bett, weil man hier auf jeden Fall in Berlin jede
Nacht bis morgens um sechs durchfeiern mußte. Ich hatte ständig das Gefühl, wenn die Diskotheken und Clubs nicht ir-
gendwie durchgehend geöffnet wären, würden die Leute sonst zu Hause vor lauter Eingeschlossensein immer gegen die
Wand rennen. Und was viele damals als Idylle und Sonderzustand und kreative Edelstadt begrüßten, war für mich nur kom-
plizierte Enge. Ich fand dieses Ganze unrastig und melancholisch. - Jetzt werde ich etwas pathetisch.
Ich finde, jetzt kriegt Berlin erst die Qualität, die mir gefällt. Ich genieße Berlin. Ich genieße den riesigen Himmel, den man
von überall sehen kann und der sich wie eine Seele über die Stadt legt. Ich genieße die Weite, das Licht, die breiten Stra-
ßen, das Wasser, den Sand, den Platz, besonders, wenn man von London die Enge und die drückenden niedrigen Wolken
den ganzen Tag gewohnt ist. London ist anders, ist vollendet, hat Tradition, hat ein Klassensystem, ist eine kapitalistische
Hochburg, eine der teuersten Städte der Welt, sieht sehr einladend aus, aber - wenn ich sie als Frau beschreiben würde -
würde ich sagen, London ist die zugeknöpfte Schöne, Kühle, die so einladend bunt wirkt, die einen aber nie an sich ranläßt.
Ich glaube, daß hat Salman Rushdie in seinem letzten Buch auch ganz gut beschrieben: "Man bleibt nur in London, weil
man immer gerne mal mit London ins Bett gehen möchte, aber es klappt nie." Das war auch der einzig gute Satz in dem
Buch.
Es ist schwer, in London Wurzeln zu schlagen, weil es auf Kreide gebaut ist. Berlin im Gegensatz dazu ist für mich die pro-
testantische Spröde, die, wenn man sich von dem ersten rauhen Satz nicht abschrecken läßt, ein Riesen-Herz hat und eine
spezielle Sinnlichkeit. Berlin ist eine Stadt, die einen willkommen heißt, die einem hilft, sich bald und für immer zu Hause zu
fühlen, die einen erdet. Diese ersten rauhen Sätze ... Eine Freundin von mir, die hier am ersten Tag, nachdem sie nach Ber-
lin gekommen war - und sehr nervös war, weil sie nicht genau wußte: "Was soll ich denn da eigentlich?" - zum Bäcker ging
und sagte, ich hätte gerne ein Croissant. Daraufhin sagte der Bäcker: "Dafür lohnt sich noch nicht mal die Tüte, Kleene."
Wenn man da nicht direkt sagt, ich zieh' wieder weg, hat man schon eine wichtige Prüfung bestanden. Es erinnert mich ein
bißchen an den wunderbaren Artikel - weil ich aus dem Ruhrgebiet komme und man merkt, ich habe eine ähnliche Klappe,
ich geb mir auf jeden Fall Mühe - von Benjamin Hinrichs über die Bundesliga-Vereine. Darin schrieb er über Bochum sinnge-
mäß zitiert: "Diese rauhe, spröde Art ist manchmal wirklich abschreckend. Aber wenn man's durchhält, entwickelt Bochum
als eine der wenigen Städte in Deutschland fast sizilianische Züge." Daß hat mir sehr gefallen. Ich als typischer Italiener. Ich
denke, das merkt man nicht direkt, aber man muß mich mal am Ball sehen. Wenn ich in Abständen wieder nach Berlin zu-
rückkehre, entdecke ich immer wieder Neues. Irgendwo baut immer einer. Einer ist fertig, der andere fängt zu baggern an.
Das Leben ist erschwinglich. Alles ändert sich, und das ständig.
Meine Kinder haben in Köln gelebt, in Hamburg, in Berlin und in London. Wenn man sie fragt, wo ist Eure Heimat, dann sa-
gen sie immer: "Berlin!" Ich weiß nicht, wie man das Gefühl beschreiben soll, aber es existiert. Dieses Einladende ist für
eine Großstadt ungewöhnlich. Und das ist es, denke ich, was Berlin auch ausmacht, auch weiterhin ausmachen sollte,
macht es speziell und unvergleichlich. Berlin hat Ruhe und Vielfalt, ist Großstadt und Dorf, ist Aufbruch und Provinz - Max
Frisch: "Angst vor der Provinz ist Provinz" - und Freiheit in einem noch unbestimmten System. Alle meine Berliner Freunde
sind Menschen, die gelassen treu sind, ob man sich nun alle zwei, acht oder zehn Jahre trifft. Wenn man sich wiedersieht,
ist es, als wäre man nie weg gewesen. Wie die Mensch, so die Stadt. Klar, ungekünstelt, berechenbar, aber nervös. Das in
diesem Urstromtal so rasant im letzten Jahrhundert die größte deutsche Stadt gewachsen ist, hat mit dieser Weltoffenheit,
mit der "mediterranen" Lebensart, der Stadt der Mitte, der Bodenständigkeit und dem knochentrockenen Witz zu tun. Es
schmeckt nach dem Meer. Die hohen Kiefern in den Wäldern rund um Berlin beweisen, die Ostsee fängt direkt hinter der
Stadt an, wenn nicht sogar das Mittelmeer. - Wo tu ich das alles hin? (sortiert die gelesenen Blätter der Rede)
Die Stadt erhebt sich aus der Erde. Es hat etwas von Euphorie, auch den leichten Schauder von Macht, was in krassem Ge-
gensatz steht zu dem leisen Gejammer, das sich in letzter Zeit in Deutschland erhebt. Cees Nooteboom in seinem wunder-
baren Buch "Rückkehr nach Berlin": "Es hat etwas Goldgräberartiges." Berlin als Symbol eines Herzens von Deutschland,
das einen Infarkt hatte, einen Riß, symbolisiert durch eine Mauer, und es kommt nach dem Abriß erst ganz langsam wieder
zu der Durchblutung; der alte-neue Pulsschlag. Und Wanderer aus der ganzen Welt sind willkommen, hier zu helfen, das
neue Leben zu beginnen. In ein und derselben Sprache wurden zwei völlig gegensätzliche gesellschaftliche wie auch ideolo-
gische Philosophien praktiziert. - Das ist ein Satz! - Eine gespaltene Sprache, die sich versuchte, so weit wie möglich von-
einander zu entfernen, da man räumlich nicht voneinander loskam. Berlin ist alt oder jung, aber nie fertig. Und das macht die
Faszination aus. Was wird aus Berlin, wenn es einmal groß wird. Woher kommt die Ermüdung, die man jetzt immer mehr
hört? Es geht um Geld und Rezession, aber plötzlich nicht mehr um Aufbruch, Abenteuer und Lust. Es lähmt die Ökonomie,
den Spaß an Farben, Musik, Gesichtern, neuen Nischen, am Himmel, am Enthusiasmus, am Übermut und am Über-
schwang. Ein Wehklagen - und keiner weiß, warum - legt sich wie Mehltau über den Heilungsprozeß, über die Vision des
geheilten Berlins, eines geheilten Landes und über die Euphorie eines aufbrechenden Europas. Nichts ist mehr, wie es war,
alles ist ungewiß, ungeregelt, chaotisch, wild. Und wir stehen bereits hinter einem ungezügelten Neubeginn. Jetzt aber nur
zu rechnen und Zahlen zu wälzen, was kostet was?, was habe ich davon?, was muß ich für meinen Nachbarn bezahlen?, ist
öde. Man sollte sich auf das Treffen der Sprachen, der Eigenarten des Humors der Menschen freuen, ein gefährliches, erfri´-
schen-des, aufweckendes Abenteuer. Nichts für Pfennigfuchser, Erbsenzähler und Buchhalter, eher etwas für Lebenshung-
rige, Diamantenjäger und unbeugsame Optimisten. Wenn der Potsdamer Platz das Symbol ist für die Begeisterung über die
Wiedervereinigung, ein Zeichen des ungestümen, freudigen Aufbruchs, dann ist da wohl etwas daneben gegangen. Noch
eher etwas zögerlich. Aber, wie heißt es so schön: "Berlin ist nicht, Berlin wird immer". Aber der nächste Wurf geht hoffent-
lich weiter. Die englische Tageszeitung "The Independent" hat schon vor drei Jahren geschrieben: "Wer an das 21. Jahrhun-
dert glaubt, der muß nach Berlin." Aber vielleicht sieht es aus der Distanz viel spannender aus, als wir es hier im Infight se-
hen können, oder nicht sehen wollen. Wenn als kleine Beispiele ein holländischer Schriftsteller und eine linksliberale engli-
sche Zeitung, die sicher nicht durch ihre Vergangenheit der Deutschtümelei verdächtig sind, die Faszination und die Dyna-
mik beschreiben, so sollte man getrost in Ost und West leichte Anstrengungen unternehmen, nach den Sternen zu greifen! -
Jetzt denken Sie bestimmt, das hätte der doch lieber singen sollen, aber ... ich kann das ja auch noch mal vorsingen von
vorne ...
Aber ich möchte mit jedem Satz meiner Rede wirklich versuchen - das dauert noch so lange ungefähr (zeigt Papierstapel) -,
die Möglichkeiten und Visionen herauszustellen und zu beschreiben, die in dieser Wiedervereinigung liegen. Die Lage
Deutschlands als Land der Mitte ist auch sein ungeahnter Vorteil. Deutschland grenzt im Norden an Skandinavien, im Wes-
ten an Frankreich und Benelux, im Süden an Österreich und an die Schweiz und im Osten an Polen und an Tschechien. Zu-
sätzlich dazu, wenn man es grob sagt, die beiden Kulturen Ost und West. Keine Mitte, keine gigantische zentrale Haupt-
stadt, sondern viele Zentren: Hamburg, Rhein-Ruhr, Frankfurt, Stuttgart, München, Dresden, Leipzig und Berlin. Somit ist es
auch ein Spiegel von Europa. Und aus dieser Vielfalt von Einflüssen darf und wird nie so leicht wieder eine steife, einfarbige,
vereinheitlichte Nation entstehen.
Und wir müssen begreifen lernen, daß es Deutschland noch gar nicht gibt. Deutschland hat es nie gegeben, geschweige
denn eine Identität - und wenn überhaupt, dann nur eine traurige, braune, tumbe. Und das Wort Deutschland sagt erst mal -
gar nichts. Es ist inhaltslos. Und bisher hat noch niemand den Beweis geführt, daß Deutschland als Land existiert. Wir sind
nicht wieder wer. Wir wissen noch nicht einmal, wer wir sind. Und vor allem: Wir wollen hoffentlich nie wieder der Wer wer-
den. Wir wollen erst einmal eine vielschichtige Identität schaffen, die bis heute nicht entstanden ist, gar nicht entstehen
konnte. "Deutschland" hat es immer nur in Etappen gegeben.
Vor dem ersten Weltkrieg existierte es gerade mal 50 Jahre, dann danach, in geänderter Form, zwanzig Jahre, danach fünf-
zig Jahre geteilt, und die letzte Etappe begann mit der Wiedervereinigung. Wir sind gerade einmal elf Jahre alt, also: wir sind
wieder in der Pubertät - viel Spaß! Und eine Einigung dieser wilden Facetten von Deutschland ist kein Geld-, sondern ein kul-
turelles Problem. Und darauf waren wir leider nicht vorbereitet. Das hat uns keiner erzählt. Dasselbe Problem, das gerade die
Welt in zwei Hälften teilt, haben wir hier in Deutschland im Kleinen und im Miniaturformat hier in Berlin. Aber ich denke, das
kann eventuell auch ein Vorsprung und ein Anreiz sein. Zwei Kulturen treffen mit Unverständnis, Sprachlosigkeit, sehr ver-
schiedenen Erziehungen und teilweise extremer Überheblichkeit aufeinander. Wir haben den Westen, der glaubt, er müsse
wegen seiner ökonomischen Allmacht sich keiner geistigen und kulturellen Auseinandersetzung stellen. Den Westen, der
nur diktiert, verurteilt und bestimmt, der meint, man muß dankbar sein, weil er so schnell und effektiv geholfen hat. Doch die-
ses blinde Tempo, der Marschtakt des Wohlstandes ist nicht durchzuhalten. Es täte uns gut, wenn wir innehalten, zuhören,
über Respekt nachdenken, über die Achtung der Geschichte und vor allem die Achtung der Geschichten beider Teile. Und
auf der anderen Seite ist es genauso sinnlos, vor seinem Spiegelbild wegzurennen. Kein Westler hätte sich kritischer und
aufmüpfiger und anders unter den totalitären Bedingungen der ehemaligen DDR verhalten. Diese Erkenntnis ist hart, aber
auch hilfreich.
Und besonders albern und besonders hilflos ist es in dieser Phase, mit Makulaturfloskeln, "stolz, ein Deutscher zu sein",
eine Gemeinsamkeit zu basteln. Man kann nicht auf irgend etwas stolz sein, was überhaupt nicht existiert.
Wenn ich Herrn Westerwelle höre, wie er dem Bundespräsidenten, der sich gegen diesen Maßstab wehrte, zeigt, er soll sich
doch gefälligst auch zum Stolz bekennen, dann sieht man, wie pubertär und bescheuert sich die Politiker zur Zeit beneh-
men. Und daß der, der im Glashaus sitzt, nicht gleich mit Bomben schmeißt, spricht für Selbstkritik und nicht für Feigheit.
Wir haben eine andere, unentschuldbare Vergangenheit und deswegen gehen wir zaghaftere, vorsichtigere Schritte, und das
ist auch gut so.
Aber es wäre genauso fatal, sich hinter seiner Vergangenheit zu verstecken, sie immer wieder hervorzuholen, wenn es gilt,
etwas zu entschuldigen. Doch so zu tun, als sei diese Vergangenheit ein Berg, den man einmal erklimmt und dann für im-
mer hinter sich läßt, das gilt auch nicht. Wir gehen der Reifeprüfung entgegen, aber für das Tempo sind wir selbst verantwort-
lich, das bestimmen wir selbst. Aufmunterung von innen und außen ist gut und hilfreich. Druck kontraproduktiv. Wir verste-
hen uns noch selber nicht, wie können das die anderen tun? Dem Osten ist eine Selbstbefreiung gelungen im Gegensatz zu
Deutschland nach '45. Uns wurde die Freiheit verordnet. Aber Freiheitsliebe kann man nicht verschreiben, die muß man ler-
nen. Ob wir das wollen, müssen wir erst beweisen. Haben wir den Mut zur Rebellion, zur Zivilcourage? Die Fragen der Hal-
tung sind keine urdeutschen Tugenden, eher ein ausgeprägtes bürgerliches Wohlfallen, Gehorsam, Arbeitsmoral, Disziplin
und die Tendenz zum Einheitsdenken und zum Einheitshandeln. Hermann Hesse schreibt in seinem Buch "Der Steppenwolf"
- jetzt kommt's gebildet - über den Typus des Bürgers: "Das Bürgerliche schätzt nichts höher als das Ich. Auf Kosten der
Intensität erreicht er Sicherheit. Statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequem-
lichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Er hat an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren ge-
setzt. Er ist ein schwaches, ängstliches Wesen."
Das ist keine Kritik, sondern Selbstdarstellung. Erst, wenn ich mir selber eingestehe, wie und wer ich bin, kann ich anfangen
zu versuchen, mich zu ändern. Es geht hier nicht um Selbstzerfleischung, um Selbstmitleid oder Selbstgerechtigkeit, es
geht um die Bestimmung des Status quo, um den Aufbruch dieser Nation, was auch immer es bedeutet, endlich wieder
lebensbejahende und spannende und sinnliche Bezüge zu verleihen. Wir haben in den vergangenen Jahren leider die Chance
zur Zäsur verpaßt, die sich mit der Wiedervereinigung geboten hat. Man hätte das Beste aus beiden Teilen suchen, ver- und
abgleichen und etwas Neues daraus schaffen müssen. Und ganz langsam, viel zu langsam für unser westliches Effizienz-
tempo wäre dadurch vielleicht die Rezeptur gefunden worden, wie man ein so versprengtes Land irgendwie und irgendwann
zusammenhalten kann. Und dazu haben wir dann auch noch dem Osten den Genuß genommen, die Selbstbefreiung ausgie-
big zu feiern und sie wirken zu lassen, sich erst einmal selber neu zu erfinden und als gleichberechtigt in die Ehe einzutre-
ten. Diese Arroganz ist es, mit der wir wirklich über den Osten hinwegrennen.
Ich war vor ungefähr drei Wochen in Uchtspringe in einer psychiatrischen Klinik, um mit Patienten über Musik zu reden, ob
Musik helfen kann bei der Therapie. Da beschrieb mir der Leiter dieser Anstalt in Uchtspringe auch, wie hart und brutal das
war, als er 1990 nach der Wiedervereinigung von seinen westlichen Kollegen ausgefragt worden ist. Es war wie ein Tribunal,
meinte er, man kam sich vor wie ein kleiner Junge, wie ein Angeklagter. Ich denke, wenn wir weiter so miteinander umgehen,
dann kann man sich vorstellen, wie immer tiefer die Wunden gerissen werden, und wie schwierig es sein wird, sie dann wie-
der zu heilen.
Die Achtung vor der Wissenschaft, der Kunst und der Identität des Ostens - wer spricht darüber? Diese lapidare Ächtung und
die daraus resultierende respektlose Verurteilung, alles bei euch war Stasi, Diktatur, also Mist, tut den Menschen verdammt
weh. Es läßt sie resignieren und schürt - wenn sich das nicht bald ändert - ein psychologisches Bruderkriegspotential. Jede
Polemik, vor allem diese, ist hinterlistig. Ich will das brutale System der DDR nicht schönreden. Aber wenn wir uns Deutsch-
land ansehen, darf es nicht um schwarz-weiß gehen. Hier ist niemand gut oder böse, klüger oder dümmer, schuldig oder un-
schuldig. Deutschland ist ein Potpourri aus Zwischentönen. Und die zu betrachten, kostet Zeit, kostet Mühe und kostet
eben. (Gelächter)
Viele Menschen sehen bloß die glatte Oberfläche des anderen, und nicht, was sich darunter verbirgt. Und gerade der Um-
sturz in der DDR ist von Wissenschaftlern, Kirche und Künstlern herbeigeführt worden. Sie haben das Volk motiviert, ihren
Freiheits- und Demokratiewillen selbst in die Hand zu nehmen. Eine solche Bürgerbewegung hat es in Deutschland bis dahin
noch nie zuvor gegeben. Und es waren u.a. Personen wie Bärbel Bohley (Malerin), Friedrich Schorlemmer (Pfarrer), Jens
Reich (Molekularbiologe) und Katja Havemann (Erzieherin, die Frau von Robert Havemann). Und diese Menschen sind Bei-
spiele, was Menschen aus diesen Bereichen alles bewegen können. Und dieses Erlebnis und Bewußtsein hat der Osten
dem Westen voraus. Und deswegen ist der Osten als Ratgeber in dem kulturellen Aufbruch mehr als gleichberechtigt. Die
Leute im Osten haben mehr Erfahrung. Gerade in der DDR-Diktatur haben die Menschen Filme, Musik, Literatur, Kunst und
Religion viel elementarer begriffen. Für den Osten war Kultur immer ein Überlebenselixier. Da alles zensiert wurde, haben die
Menschen jedes Wort dreimal umgedreht, um die geheimen Botschaften zwischen den Zeilen zu entdecken. Und dabei eine
ganz besondere Kunstfertigkeit entwickelt, sowohl im Ver- wie auch im Entschlüsseln. Nun sage ich sicherlich nicht, daß
die westliche Kultur doof ist. Aber ich sage, es gibt auch eine aus dem Osten.
Und die ist eine Bereicherung und kein Hindernis. Ich sage auch, daß die Arroganz des Westens, zu behaupten, Popkultur
sei etwas originäres, und es dann durch Marketing aufzublasen, ist dummes Zeug. Man sieht gerade jetzt in der Frage, wo
etwa Rock- und Popkultur gefragt und gefordert wären, Stellung zu beziehen zu dem Krieg - da passiert überhaupt nichts!
Die Rock- und Popkultur spricht sich mit Kampagnen für die Entschuldung der sogenannten Dritten Welt aus. Aber in die-
sem Falle ist sie sprachlos. Da passiert überhaupt nichts. Stille. Wunderbare Solidaritätskonzerte - und die sind auch wun-
derbar, völlig in Ordnung für die Opfer und auch die Anteilnahme -, aber keine facettenreiche Auseinandersetzung. Die Rock-
kultur ist stumm. Die ist so was von parallelgeschaltet. Mit einem Huster hat Herr Bush alle Größen der Popkultur kaltge-
stellt. Und das erzählen Sie mal Künstlern, die nicht ihr Image, sondern die Berufsverbote und ihre Freiheit riskiert haben in
der ehemaligen DDR.
Ich habe in den 80-er Jahren sehr, sehr viele Briefe bekommen aus der DDR. Und das waren keine Fanpost, keine Bitten um
Autogramme - es waren Briefe! Ich habe viele davon gesammelt und aufgehoben. Es sind Dokumente, in denen Menschen
über ihre Situation schreiben, über die Zensur und über den Überwachungsstaat. "Deine Musik hilft uns hier atmen. Komm
bitte nie hier spielen. Wir würden niemals eine Karte bekommen, alles wird zentral vergeben. Es würde alles zerstören." Ich
war völlig perplex über die Wirkung meiner Musik. Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt. Meine Platten waren offiziell in
der ehemaligen DDR gar nicht zu erhalten. Und da haben die Menschen sie sich auf die abenteuerlichste Weise organisiert.
Ich bin zu jener Zeit immer wieder von der Regierung eingeladen worden, dort zu spielen. Und am Schluß 1988 kam ein An-
gebot, als wir auf Tour waren, per Telex über zwei Millionen Ostmark für ein Konzert in Leipzig. Und die sollten bezahlt wer-
den mit Segelbooten, Klavieren und Antiquitäten. - Ich als alter Antiquitätenliebhaber kam da schwer ins Schleudern. - Ich
habe am Abend, es war wirklich ein ellenlanges Telex - damals telexte man noch, da gab es noch kein Fax -, und ich habe
an dem Abend das Angebot zurückgetelext: "Ich komme nur, wenn Ihr zwanzigtausend jeder meiner Alben veröffentlicht."
Darauf kam am nächsten Morgen zurück: "Machen wir. Es wird das größte Konzert in Europa. Wir garantieren mindestens
350.000 Zuschauer in Leipzig." Ich habe dann zurück geantwortet: "Ich wollte nur mal sehen, ob das mit den Platten geht",
und habe abgesagt.
Und das Prinzip ist überall auf der Welt das gleiche: wir schmeißen dich solange mit Geld zu, bis du nicht mehr nein sagen
kannst. Künstler wie Biermann wurden ausgewiesen und Westler, wie ich, als Alibi wieder eingeladen. So stärkt man das
System. Und ich habe dann, nach der Wiedervereinigung, im Sommer 1991 hier in Berlin, im Osten, in Ahrensfelde vor hun-
derttausend Menschen gespielt. Es war das aufregendste, das überwältigendste Konzert, was ich je gespielt habe.
Aber ich will damit nicht sagen, daß nur Systeme wie die DDR versucht haben, Kultur zu kontrollieren. Herr Kohl konnte das
auch ganz gut. 1986 wurden die Texte von meiner Platte "Sprünge", wie etwa ein Lied über Helmut Kohl "Witze kursier'n, In-
dustrielle geh'n schmier'n" in einem Aufsatz des CDU-Magazins neben vielen Texten von anderen Künstlern als deutsche Un-
kultur bezeichnet. Die Goethe-Institute im Ausland wurden angewiesen, diese Lieder nicht mehr zu verbreiten, nicht als deut-
sche Kunst zu veröffentlichen. Und daß war erst am Anfang von der Legislatur von Herrn Kohl. Vieles hat sich dann geändert.
Journalisten wurden nur Interviews zugesagt, wenn sie vorab die Fragen vorlegten. Das ist wunderbar in einer Demokratie,
das macht Spaß. Da kann man auch gleich das Parteiprogramm abdrucken.
Ich wurde dann 1993 gefragt, das war wirklich ein sehr interessanter Vorgang, von einer öffentlich-rechtlichen Medienanstalt,
ob ich nicht etwas zu Herrn Kohl sagen wolle, weil er zehn Jahre im Amt war. Sie würden einen Beitrag schneiden, wo alle
Freunde, Familie, Kinder, Elefanten von Frau Weber, wo also jeder mal was sagen dürfte. Und ich habe gesagt, ich möchte
das nicht. Ich möchte das nicht. Ich möchte mit dem Mann nichts zu tun haben. Da haben sie wiederholt, ja aber, sie sind
doch gerade jemand, der hat doch diese Lieder geschrieben über Herrn Kohl, sie kennen ihn ja so gut. Und da habe ich ge-
sagt, nein, ich will das aber nicht. Ich will das nicht. Na, wie dem auch sei. Sie haben nicht lockergelassen. Letztendlich ha-
be ich ein langes Interview gegeben. Habe ich also geredet und geredet und geredet. - Wie man auch jetzt merkt, wie ich
das so tue. - Und dann setze ich mich hin und kucke mir die Sendung an und - ich bin nicht drin. Und, wie es so mein We-
sen ist, ich bin sehr zurückhaltend, ein sehr entspannter Typ, habe ich gedacht, Moment mal, jetzt wird's eng. Ich habe bei
dem netten Herren angerufen, ein sehr honoriger Journalist - er trägt immer eine Fliege glaube ich. Auf jeden Fall frage ich,
sagen sie mal, ich setze mich dahin und erzähle ihnen stundenlang meine Sehensweise von Herrn Kohl und sie haben mir
Monate deshalb nachgestellt und, ja, wo bin ich jetzt? Darauf hin sagt er ganz trocken zu mir: "Also wissen Sie, ich habe
das rausgeschnitten, weil Sie sich damit nur selbst geschadet hätten." Ich habe ihn dann gefragt, ob ich das auch selber
entscheiden kann, wann ich mir schade oder nicht? Das ist doch wohl ziemlich harter Tobak. Auf jeden Fall: ausgehorcht,
abgefilmt und gespeichert - wie auch immer. Nein, ich will das jetzt auch nicht übertreiben. Auf jeden Fall war ich nicht drin.
Aber ich erzähle das aus einem anderen Grund, weil ich denke, daß die deutsche Einigung nur über die Dynamisierung der
unterschiedlichsten Lebensweisen zu erreichen ist. Es gibt eine Untersuchung von der Universität Stockholm, die stellt über
Deutschland fest: "Sie sind ein sehr effizientes Volk, aber im Kopf nur Mittelklasse." Und das ist ja nun erst mal unver-
schämt. So geht's nicht! Aber, man kann das ja auch genauer untersuchen und erst mal als eine Zustandsbeschreibung an-
nehmen. Und dann kann man darauf aufbauen. Wenn das der Status quo ist, dann kann es nur der Anreiz sein, seine Mitte
zu trainieren, um dann langsam wieder Klasse zu werden. Wir sind nicht die Größten, auch wenn uns der Wohlstand das
vielleicht ab und zu wieder erzählt. Aber wir wollen auch nie wieder die Größten werden. Sicher hat die Wiedervereinigung
auch zur Vereinigung zweier Bebraismen geführt, zweier Spießigkeiten. Wir haben uns zusammengemufft. Und jetzt müssen
wir uns, ob wir wollen oder nicht, auch wieder gemeinsam durchlüften.
Deutschland kann und sollte nie wieder eine leitende, tonangebende Attitüde einnehmen. Vielmehr kann man auch mit der
speziellen Verantwortung als Land der Mitte in der mittlernden Pufferfunktion glücklich werden. Wenn man von so vielen um-
ringt wird, heißt es nicht nur, daß man bedrängt wird, es heißt auch, daß man umarmt und gebraucht wird. Berlin hat als
Zentrum der Achse zwischen Paris und Moskau Balancecharakter. Berlin hat die Aufgabe des Ausgleichs. Schaut man sich
das Wappen der Stadt an, sieht man den Bären.
Das allein hat etwas von Gelassenheit und Geborgenheit. Doch Berlin ist nicht nur zurückgelehntes Tempo und Ruhezone,
Berlin ist auch anregend, offen, stimulierend, überraschend, beweglich und nie fertig. "Berlin ist Budapest und Prag, ge-
mischt mit Paris und Havanna, kühl und einladend gleichermaßen".
Ich bin ein Kind einer Gegend, die aus einer ähnlichen Mischung seinen Charakter erhalten hat. Ich bin - wie man so weiß -
aus dem Revier. Ende des 19. Jahrhunderts kamen polnische Bergleute ins Ruhrgebiet, um den Menschen dort erst einmal
zu zeigen, wie die Kohle eigentlich aus der Wand kommt. Und sie legten mit ihrem Wissen, ihrem Witz, ihrer Kunstfertigkeit
einen wichtigen Grundstein für das deutsche Wirtschaftswunder: Kohle - Stahl - Autos. Das Ruhrgebiet ist ein lebendiges
Beispiel, wie sich zwei Lebensweisen mischen, ohne viel Aufhebens, ohne großes Bohei, und dort entstand gemeinsam et-
was sehr Neues. Die Menschen aus dem Ruhrgebiet haben ein ähnlich großes Mundwerk wie die Berliner. Sie folgen nicht
immer dem letzten Chic, dafür tragen sie das Herz auf der Zunge. Wenn Sie so wollen, bin ich der lebende Beweis, was raus
kommt, wenn sich Osten und Westen treffen. Meine Mutter kommt aus Tallin in Estland, mein Vater aus Ibbenbüren im
Münsterland. Tief empfundenes Sentiment trifft lebensfrohe und sture Nüchternheit. - Was immer das auch heißen soll.
Deshalb denke ich, als Land der Mitte, wenn auch noch ohne Mitte, ohne vielschichtig entwickelte Kultur müssen wir erst
einmal unser Mittelfeld ganz langsam trainieren, um dann irgendwann mal wieder entspannt mitspielen zu können. Wer will
schon, daß eine Fußballmannschaft aus austauschbaren Figuren besteht, die alle den gleichen Stil spielen: rennen, schwit-
zen und grätschen. Die uniforme Elf, keiner der Pässe über vierzig Meter, der auf die Brust schlägt, , ohne einen, dem der
Ball am Fuß klebt, in der keiner am linken Flügel Kabinettstückchen vorführt und keiner der aus dem Kniegelenk Freistöße
oben in den linken oder rechten Winkel zirkelt, und keiner, der Ecken direkt verwandeln kann. Die deutsche Nationalmann-
schaft ist dreimal Weltmeister geworden, ausgerechnet in Zeiten, in denen es um Aus- und Aufbruch ging. 1954, als sie zum
ersten Mal wieder zugelassen waren, 1974, als unter Willy Brandt die Öffnung zum Osten erfolgt, und 1990 zur Wiederver-
einigung. "Wenn wir also wieder Weltmeister werden wollen, wissen wir, was zu tun ist". (tosender Applaus) (Dies ist ein
spielerischer Witz)
Wir reden oft über Deutschland wie über das Land der Dichter und Denker, wie über eine Antiquität, die vor lauter philosophi-
scher Reife irgendwann vom Baum fällt. Aber wir vergessen dabei auch oft die Holzwürmer, vergessen den Staub, der sich
auf solche Antiquitäten zu legen pflegt. Fragen wir uns statt dessen, was machten die 20-er Jahre aus? Die 20-er Jahre, die
oft so und speziell in Berlin beschworen werden, entstanden durch ein vitales, lustvolles, geheimnisvolles Zusammenspiel
von Forschung, Wissenschaft, Kunst, Theater und Kultur. Berlin hatte zu dieser Zeit eine der bedeutendsten Universitäten
der Welt. Es war abenteuerlich, verrückt, sinnlich, eine der modernsten Städte überhaupt. Nichts schien unmöglich. Es war
ein Platz der Hochkultur. Film, Theater, Oper, Malerei. Man traf sich in Cafés, bei Aschinger zur Erbsensuppe, in Cabarets,
in Salons und debattierte und lebte. Es herrschte eine geistige Hochspannung zwischen Wissenschaft und Forschung, zwi-
schen Literatur und Satire. In Berlin wurden zu dieser Zeit die ersten elektronischen Instrumente entwickelt. Ohne sie kein
Cage, kein Stockhausen, kein Kraftwerk, kein Techno und keine Popmusik. Berlin war damals ein brillantes Milieu für Salons
und Clubs, in denen sich künstlerische und intellektuelle Hochkaliber trafen. Eine Mischung von oft völlig verschiedenen op-
positionellen und politischen Ansichten, die an diesen Plätzen leidenschaftlich kontrovers nächtelang debattiert wurden.
Christen und Juden trafen sich, Eliten aus verschiedensten Bereichen mit extremen Positionen, mächtig, prominent, glamou-
rös. Es war die geistige deutsche Blütezeit. Sie war kurz, sehr kurz. Der Schatten des schleichenden Antisemitismus lag
bereits über diesen 20-er Jahren und der nationalsozialistische Größenwahn hielt Einzug in die akademischen Eliten.
Mit der Ermordung Walter Rathenows 1922, Außenminister zu dieser Zeit, übernahm der blinde Gehorsam und die spießige,
rechte Vaterlandsliebe immer mehr die Kontrolle über die deutschen Intellektuellen, Künstler und Akademiker. Fritz Stern
beschreibt in seinem Buch "Einstein's German World" gerade diese Epoche als die Phase, in der Deutschland an der Reihe
gewesen wäre, Leadership in diesem Bereich für eine gewisse Zeit in der Welt zu übernehmen. Er sagt, intellektuell und kul-
turell war es eine Blütephase. Wie in Spanien, England, Holland und Frankreich zuvor, stand Deutschland vor denkwürdigen
Möglichkeiten. Und er fragt sich, warum konnten sie das nicht aufrechterhalten, warum mußten sie es selbst zerstören. Und
die einfachste Antwort wäre: durch Überheblichkeit und durch die Nazis. Die richtige aber ist: durch die Kooperation der In-
tellektuellen, der Künstler mit dem System, durch die Sehnsucht, von der Macht anerkannt und ein Teil von ihr zu werden.
Diese Epoche scheiterte an der Unfähigkeit, sich selbstkritisch, bescheiden und rebellisch der Macht zu entziehen, schreibt
Stern. Diese Korrumpierung, das Untertanentum, das mangelnde Rückgrat, der Gehorsam, der Wunsch, Teil der Macht zu
werden, haben diesen faszinierenden, hoffnungsvollen Aufbruch verraten. Die erste vielversprechende, pluralistische deutsche
Identität zerstört. Kunst muß unabhängig und gefährlich und darf nicht käuflich sein. Besonders in wirtschaftlich komplizier-
ten Zeiten. Und das kostet Verzicht auf Orden, Medaillen, Verdienstkreuze und das kostet Haltung.
"Mitte in Deutschland ist rechts", Klaus Koch, Süddeutsche Zeitung vom 19.03.1999. "Mitte ist Stillstand, Ersticken, Ein-
heitsbrei, ist Lähmung und Langeweile. Und diese grausame Mitte hat eine grausame Kultur hervorgebracht in Deutschland:
die Quotenkultur. Man hört von Kiel bis München das gleiche Lied im Radio. Man sieht auf 25 Kanälen im Fernsehen die
gleichen unterdurchschnittlich begabten Massenmoderatoren. Und die Diktatur der Quote wird langsam auch zur Diktatur der
Zote." Das ist ein Satz! - Wir treffen uns auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner treudeutscher Instinkte. So läßt sich Kas-
se machen. Und so wird eine manipulierbare, verblödete Masse geschaffen. Intimitäten werden voyeuristisch zu Tode getalkt, Seelenpornografie. Das Neueste ist, daß jetzt auch Luder schon Einzug in die Medien halten als Quotenbomben. Niedrigste
Instinkte werden kulturfähig gemacht. Aber Quotenkultur bedeutet nicht nationale Einheit. Unsere Quotenkultur bedeutet kre-
ative Einfalt. Daß wir alle das gleiche Lied singen, das hatten wir schon einmal. Wer Vielfalt will, darf keinen Quoten gehor-
chen. Jede Vereinheitlichung der Geschmäcker ist ein Verbrechen! Sie ersticken in ihrem brutalen Mainstream alle Facetten,
Alternativen, Extreme, Spontaneitäten und andere Wahrheiten. In einem "Spiegel"-Artikel, in dem hoffentlich bald auf eine
überholte deutsche alte Weise der patriotische Kulturoptimist Roger Willemsen linkisch niedergeschrieben wird, wird er im
gleichen Atemzug Verona Feldbusch gegenübergestellt. Frau Feldbusch wird jedenfalls in diesem Artikel im Gegenteil zu
Roger Willemsen als zukunftsweisend und "gut drauf" bezeichnet. Spinat ist Kultur.
Es gibt immer etwas zu meckern und immer etwas, was einen nervt. Und ich bin sicher einer von denen, die bekannt dafür
sind, daß sie nicht aufhören können, rumzunörgeln. Aber ich denke, es ist auch ein Zeichen von Zuneigung, wenn man das,
was einem sehr am Herzen liegt, mit Argusaugen beobachtet, weil man es erhalten und verbessern will. Und vielleicht sollte
man auch von den Engländern ein bißchen von der Selbstironie übernehmen.
Die Engländer haben das große Privileg als Insel: "Ich such mir den Tag aus, wenn ich mir Sorgen mache. Heute mache ich
mir Sorgen, morgen nicht." Und ich denke, das täte uns auch mal ganz gut, etwas davon zu bekommen. Wenn man sieht,
mit welcher Hingabe und mit welchem Stil die Engländer letzte Woche George Harrison gewürdigt haben ... alle Titelseiten
der Tagespresse ... es gab wunderbare, einfühlsame Nachrufe. Das war reifer Kulturjournalismus. Dagegen habe ich vor vier
Wochen eine Laudatio auf Rio Reiser gehalten, der fünf Jahre nach seinem Tod den Preis für sein Lebenswerk erhielt. Und
es ist unvorstellbar, daß jemand wie er, der sich selbst als Volkssänger bezeichnet hat, der die schönsten deutschen
Kampf- und Liebeslieder der letzten 20, 30 Jahre geschrieben hat, auch nur annähernd eine solche Würdigung erhalten wür-
de. Er ist zum Teil gerade an dieser Mißachtung und diesem mangelnden Respekt hier in Deutschland zerbrochen. Künstler
wollen, wenn schon nicht geliebt, dann zumindest geachtet werden, um aufzublühen. Die Franzosen, Engländer und Italiener
haben damit kein Problem. Künstler schreiben, denken, malen, fühlen ihr Land. Aber unser Land gesteht ihnen immer noch
zu ungern den Ausbruch aus dem Mainstream, aus der Mittelmäßigkeit zu. Aber in der Kunst geht es um Wut, Ekstase,
Wahnsinn und Diventum und nicht um gebremsten Schaum, staatstragendes Wohlverhalten und für alle verdaubar zu sein.
Kunst muß exzentrisch, maßlos, übertrieben, fantastisch und kindlich naiv sein. Erst wenn eine Nation oder Stadt nicht
mehr peinlich über eine Namensgebung - Marlene-Dietrich-Platz - debattiert, sondern mit ihren Ikonen entspannt und auch
ein bißchen dankbar umgeht, hat es einen zentralen Test zur Reifeprüfung bestanden. Das gilt für die Kunst, genauso wie für
die Universitäten, für die Forschungslabore und die Akademien. Berlin wie Deutschland braucht Glamour. Wir brauchen das
äußere und vor allem das innere Glühen. Und das betrifft auch die Journaille. Eine lebendige Demokratie braucht Journalis-
ten, vor denen sich Politiker fürchten. Mehr als eine Handvoll. Die keiner Partei angehören, nicht vor dem Herausgeber krie-
chen, die Courage zur eigenen Überzeugung und zu ihrem Gewissen haben. Vor hundert Jahren schrieb Kurt Tucholsky: "Sprache ist eine Waffe." Journalisten müssen sich daran erinnern, müssen das Rückgrat einer freien, vielseitigen Gesell-
schaft sein. Sie sollen unabhängig die Verzweiflung, die Nöte und Sehnsüchte der Bevölkerung den Politikern vermitteln, sie
kritisieren, unter Druck setzen, sie ausfragen, aber nicht umgekehrt, ihnen, Verlagshäusern, der Industrie oder generell dem
System dienen und sich in die Feder diktieren lassen.
Der Osten hat bei seiner Revolution erlebt, was heißt: "Wir sind das Volk". Diese Erfahrung sollten wir alle mal machen.
Staat und Kultur, Politik und Kunst, Macht und Wissenschaft gehören nicht zusammen. Dies Beispiel und das Beispiel des
Runden Tisches beweisen, erst und solange man sich der Politik entzieht, bereichert und vitalisiert man ein Land. Um eine
neue Einheit, eine neue Pluralität und eine neue Aufklärung zu entwickeln, müssen wir die Salons, die Runden Tische und
die Clubs wiederbeleben. Es müssen Fernsehdebatten stattfinden, wo Menschen aus dem Osten und dem Westen über
Themen reden und sich gegenseitig über ihre Sehensweisen, über ihre Gefühle erzählen. Und an diesen Fernsehdebatten
dürfen keine Politiker und ihre Kollaborateure teilnehmen.
Ob wir in der Lage sind, intellektuell 80 Millionen Köpfe zu ernähren, ist noch lange nicht bewiesen. Um aber einen Weg zu
finden, dieser neuen Dimension Deutschlands gewachsen zu sein, braucht es Visionen, extreme Denkansätze, Polarisie-
rung, waghalsige Standpunkte, radikale Verirrung und dann vielleicht eine neue Generation von Köpfen, die diesem Aufbruch
gewachsen sind und ihn handhaben können. Deutschland befindet sich in der Pubertät. Zur Reifeprüfung ist viel Training, viel
Lernen und einiges an geistiger Gymnastik nötig. Ob wir sie jemals bestehen, ob wir als Land überhaupt zusammengehören
oder zusammengehören wollen, oder ob Deutschland vielleicht eine Fata Morgana ist, das ist alles offen. Aber genau darin,
in der Aufforstung dieser völlig diffusen Wüste, darin steckt das Lebenselixier, der Spaß. Und das ist die Herausforderung.
Aber schaffen wir die, ohne nach dem Staat zu rufen! Demokratisches Selbstverständnis bedeutet, daß Wissenschaftler,
Bürger, das Volk, Künstler, Pfarrer, Sportler, Zauberer dieses Ziel halsbrecherisch und eigenverantwortlich in die Hand neh-
men. Sie müssen die Politiker eifersüchtig machen, ihnen Angst einjagen, ihnen diktieren, wo es lang geht, müssen gemein-
sam eine neue Ost-West-Demokratie entwickeln, die etwas völlig Neues ist, von der noch keiner weiß, wie sie aussieht. Es
gibt kein Netz, keinen doppelten Boden. Wie schreibt der "Spiegel"? "Kulturkrieg ist Frieden." Doch als Ulrich Wickert die
indische Schriftstellerin Arundati Roy zitiert, wird er von Politikern zurückgepfiffen, gemaßregelt und muß sich entschuldigen.
Und tut das auch noch!
Peter Zadek, einer der größten deutschen Theatermacher, hat während der Theaterwochen hier in Berlin, in seiner Geburts-
stadt, seinen 75. Geburtstag gefeiert. Kein Politiker, der selber vor Ort sitzt, kommt auf die Idee, ihm zu gratulieren bzw. ein
Fest zu geben - das machen dann die Wiener. Bräsig sitzen die deutschen Politiker rum und kommen nur bei völlig überflüs-
sigen Aktionen - wie bei der Wickert-Schelte - aus ihren Löchern. Helmut Kohl hat als Kanzler den Begriff "ab-kanzeln" ent-
wickelt. Die Menschen im Osten waren aufgrund ihrer katastrophalen Wirtschaft leicht mit der starken D-Mark zu bestechen.
Sie selbst wurden in ihren Bedürfnissen und Unsicherheiten überhört, vergessen, ab-ge-kanzelt.
Was tut Gerhard Schröder? Er lädt Schriftsteller zur Debatte über den Krieg in Afghanistan ein, hört halb zu, um dann Günter
Grass öffentlich abzukanzeln. Als er dann Angst kriegt, durch die Kriegsgegner im Parlament seine uneingeschränkte Soli-
darität mit Amerika zu verlieren, stellt er - für diese Situation völlig unangebracht - die Vertrauensfrage: abgekanzelt. Genau
wie das Land, so auch die Politiker: pubertär. Eine radikale Mitte ist nur über kulturellen Mut, eine Orientierung gegen Osten
möglich. Ohne Rußland kein Europa. Ohne russische Kultur, speziell ohne russische Literatur keine goldenen 20-er Jahre.
Deutschland, das nun mal aus Ost und West besteht, daran ist ja nun mal nichts zu ändern, war unter Willy Brandt eine
Signalstation für die andere Seite. Es hatte unter ihm eine kreative Hochzeit. Die 70-er Jahre mit den Techno-Vorreitern, mit
Kraftwerk, Neu, Can, Tangerine Dream. Dieses Land ist eine Ost-West-Scheide. Ein Land, das sich im Westen nach dem
zweiten Weltkrieg viel zu sehr auf die kulturellen Einflüsse seiner Nachbarstaaten konzentriert hat. Die innere Mitte zu fin-
den, ist schwer. Das ist ein langer Prozess. Doch gleichzeitig ist es die faszinierende Chance, die in der Öffnung des Os-
tens liegt, nämlich endlich sein Gleichgewicht wiederzufinden. Und nicht nur das, sondern als Bindeglied zu fungieren. Mit
der westlichen Erfahrung in Europa eine gelassene mittelnde und mittlere Funktion und Verantwortung zu übernehmen. -
Jetzt wird's schwierig!
Westdeutschland war und ist Amerika-hörig. Aber Amerika ist für uns kein Vorbild, muß es auch gar nicht sein. Deutschland
ist kein westliches Land. Deutschland ist ein Land der Mitte. Uns darf nicht allein interessieren, was die Amerikaner wollen.
Uns muß interessieren, was Europa will. Gesamteuropa kann nur bestehen und ein faszinierendes Gebilde bleiben, wenn es
einsieht, daß der Osten eine Menge zu erzählen hat. Und er hat einen extrem kulturellen Vorsprung, weil er begriffen und er-
lebt hat, daß Kunst - als Überlebenselixier Garant für Freiheit - in einem unfreien System Nahrung fürs Gehirn als parallele
Realität sein kann.
Ostdeutschland war der angepaßteste, perfekteste sozialistische Staat im Warschauer Pakt. - Da haben sich die Polen im-
mer 'drüber lustig gemacht. - In dieser Perfektion lag die angepaßte Lähmung zweier unsicherer, zerrissener Teile. Die Blök-
ke sind verschwunden, bzw. lösen sich nach und nach auf. Es beginnt eine neue Identitätssuche. Berlin wird auch das Baro-
meter für wiederaufkeimenden deutschen Größenwahn oder für bescheidenes, zurückgelehntes deutsches Selbstverständnis
und für Selbstironie werden. Politiker sollen sich um Arbeitsplätze, Buchhaltung kümmern, wir uns um Himmel, Farben,
Sehnsüchte, Tragik, Töne, Formen. Und wenn es eine Zukunft gibt, dann liegt sie im Austausch von Geschichten, von Ge-
heimnissen, von Träumen, von Büchern und Musik, liegt sie bei Forschung und Wissenschaftlern und Freigeistern, die so be-
zahlt werden, daß sie auch in Deutschland bleiben. Und bei Menschen, die aufeinander zugehen, lernen, zuzuhören, Vorur-
teile zu verlieren und Freundschaften zu schließen.
Wenn man in London ist und durch die "Tate Modern" geht und Künstler wie Sigmar Polke, Andreas Gursky, Rebecca Horn,
Kurt Schwitters, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Gerhard Richter und viele mehr ausgestellt sieht, dann spürt man die Viel-
seitigkeit dieses Landes. Genauso ist es in der Musikszene, in der Elektronik, im Hip-Hop, und genauso wird es in der Lite-
ratur und im Film werden.
Alles am Anfang. Alles im Chaos. Ich hoffe, daß Deutschland nie, oder lange kein Gesicht bekommt, sondern wenn, ganz
viele behält. Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard hat einmal gesagt: "Jeder mag sein Land. Ich auch! Nur den
Staat mag ich nicht". Ich bin gerne Deutscher. Ich mag Berlin. Ich mag dieses Land. Ich mag die Menschen. Ich mag den
Traum, die Vision, den Freigeist, aber nicht den Staat. Und ich liebe meine Kinder.
Nur, wer sein Gegenüber mit Rücksicht und Respekt betrachtet, kann Konflikte glätten. Nur, wer Politik als "viel" aus dem
griechischen "polis", also eins und doppelt begreift, legt ein Grundstein für ein lebendiges, leidenschaftliches, extremes Mit-
einander. Nur, wenn es gelingt, sich in die Person des anderen hineinzuversetzen, nachzuvollziehen, wie er fühlt, erst, wenn
das alles gelingt, wird aus zwei Berlin eins. Erst wenn wir lernen, zwei Berliner, zwei Deutsche zu sein, wird aus zwei
Deutschlands eins.
Ich bin zwei Berliner.