HERBERT GRÖNEMEYER:
Interview von STEPHAN BARTELS (Brigitte 2007)
DAS LEBEN HAT WUCHT UND DRAMA

Herr Grönemeyer, Ihr neues Album "12" hört sich an wie die Platte eines Mannes, der mit sich im Reinen ist - aber nicht
unbedingt mit der Welt, in der er lebt.


Könnte schon hinkommen. Im Vergleich zu "Mensch" ist da auf jeden Fall eine größere Gelassenheit als vor fast fünf Jahren.
Mir geht es grundsätzlich sehr gut. Das liegt auch daran, dass ich in England lebe, da sieht man das Leben einfach nicht so
verbissen.

Bleibt noch die Frage nach dem Zustand der Welt...

Bei diesem Gefühl der Unzufriedenheit spielt England auch eine Rolle - das Land führt gerade Krieg. Einen Krieg, den ich für
verkehrt halte, einen Glaubenskrieg. So ist "Ein Stück vom Himmel" entstanden.

Es geht darin um Religion.

Und die ist dann in Ordnung, wenn sie eine eigene Instanz bleibt, an der man sich selbst misst. Aber sobald sie anfängt,
sich zu vergleichen, wenn sich das wohlhabende Christentum für besser hält als den Islam und ihn per se für böse erklärt,
dann wird es kritisch.

Was ist Religion für Sie?

Ein Intimbereich, eine moralische, ethische Größe, die sich jeder selbst bastelt, woraus auch immer - aber zur Zeit trägt
jeder seinen Katholizismus, Calvinismus, sein Judentum vor sich her. Diese öffentliche Diskussion: Wer glaubt mehr, wer
glaubt besser? - das ist doch absurd. In Afrika habe ich erlebt, dass Entwicklungshilfe immer noch mit der Bibel im Anschlag
geleistet wird.

Hat Sie das erstaunt?

Ja, ich war ganz baff. Das war in einer Aids- Beratungsstelle, in der Trauerarbeit mit Hinterbliebenen geleistet wurde. Da
wurde im Gespräch mit den Menschen immer mit der Bibel gearbeitet. Ich habe die gefragt: Wollt ihr hier wirklich helfen oder
denen euer Produkt unterschieben? Da fühle ich mich schlecht, das ist unfair.

Was würden Sie der Bibel in diesem Fall entgegensetzen?

Das Interesse für das Schicksal der Menschen. Wenn ein irakischer Vater und ein englischer Vater in diesem Krieg einen
Sohn verlieren, haben sie eine Menge gemeinsam. Wenn man die zusammenbringt - die würden sich nie über Religion
unterhalten. Wir sind alle gemeinsam auf der Erde, und wir sollten zusehen, dass wir sie gemeinsam über die Runden
bringen.

Ein Teil Ihrer Lieder ist sehr politisch. Wie schätzen Sie Ihren eigenen Machtfaktor ein?

Relativ gering. Ich denke, Popmusik kann für etwas trommeln.

Wirklich? Immerhin waren Sie im Oktober 2005 auf dem Cover des US-Magazins "Time", als "europäischer Held".

Das ist ja ganz nett und für die Eitelkeit schön. Wenn man wissen will, wer ich wirklich bin, muss man in meine Konzerte
kommen, wo ich versuche, den Leuten einen guten Abend zu bereiten. Und politisch habe ich ja nur begrenzt Einfluss - ich
kann nur versuchen, Politikern immer wieder auf den Zahn zu fühlen.

Macht doch auch Spaß, oder?

Klar. Wenn man merkt, dass man Leute anpiekst, dass Politiker sich von mir auf den Schlips getreten fühlen, dass Rita
Süßmuth nicht mit mir sprechen will, weil ich mal ein Lied gegen die CDU gesungen habe - dann macht das Spaß. Ich bin
ja eine Art Narr. Aber dass ich mich wegen all des Applauses zu wichtig nehme, glaube ich nicht. Dafür komme ich einfach
zu sehr aus'm Kohlenpott. Damit kannste nicht viel reißen da.

Sie haben einmal gesagt, Sie seien preußisch- calvinistisch erzogen worden. Was bedeutet das eigentlich, wenn dann noch
der Faktor Kohlenpott dazukommt?


Das ist eine merkwürdige Mischung aus preußischem Pflichtbewusstsein und calvinistischer Bescheidenheit. Allerdings
sagte Calvin auch, dass man bei all dieser Bescheidenheit etwas aus seinem Leben machen solle, denn: Wer seine Möglich-
keiten im Leben ausschöpft, steht später im Himmel besser da. Das Preußische sorgt für einen gewissen Druck, seine
Arbeit zu erledigen. Und was den Ruhrpott angeht, da sagt man: Es kommt nicht auf die Hose an, sondern auf das Herz,
das darin schlägt.

Ein schönes Bild.

Meine Interpretation vom Ruhrgebiet hat stark mit den Gruben zu tun. Bei uns werden die Menschen zuerst auf ihre Verläss-
lichkeit getestet und nicht auf Sympathie. Im Falle eines Grubenunglücks muss man sich nämlich schwer auf den anderen
verlassen. Wenn du dich morgens im Aufzug in den Schacht umguckst, schaust du erst mal: Wer würde mich rausziehen,
wenn ich verschüttet werde? Das ist wichtiger, als jemanden zu mögen. Einmal unzuverlässig, das geht. Zweimal nicht, da
ist alles vorbei, bis ans Lebensende. Zuverlässig und sympathisch ist übrigens das Optimum.

Was haben Sie von Ihren Eltern mitbekommen?

Der Urgroßvater meiner Mutter war Erzieher am preußischen Hof, so richtig mit der Peitsche noch. Der war extrem streng,
das hat die Familie auch später geprägt. Aber es wurde dort viel musiziert, von meiner Mutter habe ich also eher das
Musische.

Und Ihr Vater?

Von dem habe ich die Lebenseinstellung. Er war nämlich äußerst lebenslustig und fröhlich und fand das Leben grundsätzlich
erst mal toll. Er mochte die Menschen und saß gern mit ihnen zusammen. Er war bestimmt kein Weichei, aber er konnte
schon mal vor lauter Freude weinen. Meine Mutter hat mal gesagt, sie könne nicht verstehen, wie ein Mensch so fröhlich
sein kann wie mein Vater.

Passt nicht so gut zum Preußentum Ihrer Mutter, oder?

Meine Mutter war immer eher stiller. Aber auch zusammengenommener, hat stark auf Haltung geachtet. Sie kommt aus
Tallinn, einer Hansestadt, sie ist den Norddeutschen nicht ganz unähnlich.

Ihr Vater hat in Stalingrad einen Arm verloren. Ist es als Kind nicht ein bisschen komisch, wenn dem eigenen Vater ein
Körperteil fehlt?


Das sieht man gar nicht. Kinder denken: Das ist der Vater, der ist komplett, so wie er ist. Wahrgenommen habe ich das erst,
als mich Klassenkameraden mal darauf angesprochen haben. Aber wenn es um deine Mutter, deinen Vater geht, dann setzt
sich dein Bild über jede Behinderung hinweg. Abgesehen davon war er gar nicht so richtig gehandicapt: Er konnte Auto
fahren, sich mit einer Hand die Schuhe zubinden. Im Haushalt war er nicht so der Stärkste...

Wahrscheinlich hatte er einige andere Qualitäten.

Seine Selbstironie zum Beispiel. Seine Sturheit, es war nicht einfach, an ihm vorbeizukommen, eine harte Kante. Aber man
konnte mit ihm später immer drüber reden. Seine Fähigkeit, auch über den Faschismus zu reflektieren, was meine Mutter
nicht richtig konnte.

Hat Ihnen Ihre eigene Erziehung auch dabei geholfen, Vater zu sein?

Denke ich schon. Vor allem in unserer besonderen Situation.

Ihre Frau ist 1998 gestorben, als Ihre Tochter Marie gerade neun und Ihr Sohn Felix elf Jahre alt waren.

Mir war am Wichtigsten, ihnen zu zeigen, dass das Leben trotzdem wahnsinnig schöne Momente beinhaltet. Es geht weiter,
es gibt Lachen, Freundschaften, Liebe. Daran habe ich immer festgehalten.

Das ist Alleinerziehen in einer Extremsituation.

Ich habe mich oft gefragt: Wie bringe ich sie da durch? Wie bekomme ich sie überhaupt groß, mal ganz unabhängig von
ihrem Verlust? Das Leben hat Wucht und Drama. Aber auch alles andere. Ich hoffe, dass sie eines Tages über mich sagen:
Er hat uns da gut durchgeschleust.

Rückt die Familie nach so einem traumatischen Ereignis enger zusammen?

Ja. Bei aller Tragik, das ist das Gute, das darin steckt. Und die Pubertät der beiden war dadurch geprägt. Das ist eine Zeit,
in der sie eigentlich anfangen sollten, extremst auf die Glocke zu kloppen bei den Eltern. Aber in unserer Situation sind sie
mit mir sehr vorsichtig umgegangen. Einen Vorteil würde ich das trotzdem nicht nennen.

Es gibt auf der neuen Platte auch ein Lied für Ihre Kinder: "Zieh Deinen Weg".

Marie ist jetzt 18 und Felix 19, die beiden sind alt genug und verlassen allmählich den Hof. Dieses Lied war für mich der
Versuch, mal zu Papier zu bringen, was ich ihnen noch mitgeben möchte. Und auch da spielt mein Vater eine große Rolle.
Der hat das Leben umarmt, einarmig. Ist morgens aufgestanden und hat erst mal ein Lied gesungen. Falsch, aber er hat
gesungen. Rezitierte im Pyjama Gedichte im Garten. Er hatte immer ein Lächeln im Auge. Wenn ich das weitergeben kann,
dieses Gefühl, dann habe ich was erreicht.

Gab es irgendwelche anderen Hilfen beim Erziehen? Ratgeber? Irgendein Grundwertegerüst, das man sich zimmert?
Wie haben Sie das hinbekommen?


Nein, eigentlich nicht. Und ob ich was hingekriegt habe, ist ja noch die Frage.

Sagen die Kinder nichts dazu?

Meine Tochter fängt langsam an. Die sagte mal: Du siehst immer so unschuldig aus, man glaubt gar nicht, was so dahinter
steckt. Das fand ich rührend, traut sich ja sonst auch keiner, mir so was zu sagen.

Was steckt denn dahinter?

Zum Beispiel, dass ich extrem explodieren kann, wenn ich wütend bin. Von Freunden habe ich gehört, dass die Kinder mal
gesagt haben: Hat er ganz ordentlich gemacht. Diese trockene Art haben sie von ihrer Mutter, die war ja Hamburgerin.

Ist es für einen Vater schwierig, ein Mädchen allein großzubekommen?

Klar. Als Mann bin ich doch gar nicht in der Lage, die Psychologie eines heranwachsenden Mädchens zu verstehen. Ein
Vater kann was anderes, aber nur eine Mutter begreift die Tricks, die Finessen, die weibliche Teen- ager draufhaben. Da sind
Mädels ziemlich gewieft, das meine ich gar nicht negativ. Einen Vater bekommt man doch schnell rum, das geht mit Müt-
tern nicht so einfach. Einen Jungen begreife ich da besser. Sich in den Kopf eines Mädchens hineinzuversetzen, ist ein
wesentlich komplexerer Vorgang. Aber sie sind beide wunderbar.

Ist auf der anderen Seite auch manches einfacher, wenn man allein ist?

Was man nicht hat, sind endlose Diskussionen darüber, was man eigentlich will in Erziehungsfragen. Aber was fehlt, ist das
ausgleichende Element. In einer Partnerschaft kann einer mal richtig auf den Tisch hauen - dann bleibt zumindest noch der
andere als Anlaufpunkt für das Kind. Wenn man allein ist, ertappt man sich plötzlich dabei, dass man herumschimpft und
eine Stunde später dafür sorgen muss, dass die Dinge wieder eingeordnet werden. Das ist in einer Partnerschaft einfacher.
Aber inzwischen habe ich ja wieder eine Freundin, die auch bei uns wohnt.

"Du bist die" ist ein Lied für diese neue Frau, eine wunderbare Liebeserklärung und das vielleicht schönste Stück des neuen
Albums. Das allerdings an einigen Stellen irritiert, weil Sie mehrfach singen: Bleib bloß nicht bei mir, wenn du nicht mehr
willst. Das klingt ein wenig befremdlich in einem Liebeslied.


Mit allem, was schön ist, ist die Angst verbunden, dass es mal zu Ende geht. Und auf der anderen Seite ist eine Beziehung
nichts anderes als der Versuch von zwei Menschen, das Leben zusammen zu meistern. Aber jeder hat doch die Freiheit zu
sagen: Es geht nicht mehr. Die beanspruche ich schließlich auch. Dies war einfach der Versuch, ein Liebeslied über zwei
selbständige Menschen zu schreiben, die sich nicht mit ihrer Liebe überrennen und nicht an sich herumschrauben und nicht
versuchen, den anderen zu verbessern.

Okay. Man denkt beim Hören bloß: Da hat einer Angst, jemandem auf die Nerven zu gehen.

Auch das schönste Fußballspiel dauert nur 90 Minuten, dann ist es vorbei. Und das gilt für alles. Nichts ist unendlich.
Ich will doch nur, dass es schön bleibt - und dann zu Ende geht, wenn es das nicht mehr ist.